Dynamik geistiger Lebenshilfe
( 1904-1977 )
Erst-Herausgeber
Gibt es in uns eine Art „hilfreiches Heinzelmännchen“, das nur darauf wartet, von uns entdeckt und angesprochen zu werden? Wer die Probe aufs Exempel macht, wird begeistert feststellen, daß dies kein Märchen oder ein Wunschtraum ist, sondern Wirklichkeit, daß tatsächlich in den Tiefen unseres Un- und Überbewußtseins ein verborgener Schicksalslenker am Werke ist, eine ordnende Macht, ein innerer Helfer, mit dem wir zu dauernder Zusammenarbeit gelangen und mit dessen Hilfe wir jedes Problem lösen und jede Situation meistern können.
Erinnerungen an Karl Otto Schmidt, von Gustav Pfeiffer
Zum ersten Mal begegnete ich dem damals 64jährigen Karl Otto Schmidt, allgemein K. O. Schmidt genannt, im Januar 1968. In der Folgezeit arbeiteten wir zwei Jahre lang im Spendhaus als Kollegen zusammen, er als Leiter der Abteilung „Alte Stadtbibliothek“, ich für die gesamte Stadtbücherei zuständig. So ergab es sich schon bald, daß wir uns auch persönlich näherkamen. K. O. Schmidt führte mich in das mir noch unbekannte Gebiet des südwestdeutschen Frühdrucks ein, wobei ich ihn als einen allzeit hilfsbereiten Kollegen und kenntnisreichen Mentor schätzen lernte.
K. O. Schmidt war damals bereits auf eine technische Hörhilfe angewiesen und nahm deshalb nicht mehr am Publikumsdienst der Bibliothek teil. Statt dessen widmete er sich ganz der Organisation der Kunstausstellungen im Spendhaus und den laufenden Aufzeichnungen für die Reutlinger Stadtchronik. Sehr beeindruckte mich seine Gabe, die zahlreichen Künstler, die wegen der großen Nachfrage keinen Ausstellungstermin mehr bekamen, so zu trösten, daß sie der Stadt danach nicht gram waren.
Jeden Morgen betrat K. O. Schmidt pünktlich auf die Minute aufrechten Ganges das Spendhaus. Schon seine äußere Erscheinung strahlte eine wache und angespannte Konzentriertheit aus. Wer auch immer ihn ansprach, begegnete dem freundlichen Blick seiner hellblauen Augen; die rosigen Backen bildeten einen merkwürdigen Kontrast zu den schmalen kaum geschwungenen Lippen. Seinen Gesprächspartnern war er stets ein aufmerksamer Zuhörer. Nur einmal reagierte er mir gegenüber unsanft, als ich ihn auf ein Buch ansprach, das er mir dediziert hatte. Die kleine Schrift trug den Titel „Baldurs Wiederkehr. Die Weisheit des Nordens“. Der Anhang enthielt Empfehlungen für Bücher von K. O. Schmidt, warb aber auch für Titel wie „Frömmigkeit nordischer Artung“ vom verflossenen Rasse-Günther und „Allmutter“ von Hermann Wirth, einem unrühmlich bekannten völkischen Frühgeschichtler. Meine scherzhaft gemeinte Bemerkung: „Aber Herr Schmidt, das ist doch keine Gesellschaft für Sie!“ quittierte er mit einem strengen Blick und der Feststellung: „Auch diese Leute können von mir lernen!“
Über seine Erlebnisse als politisch Verfolgter sprach er so gut wie nie. Welch hohe menschliche Wertschätzung K. O. Schmidt selbst in jener dunklen Zeit in Reutlingen genoß, zeigt die Tatsache, daß der Oberbürgermeister der Stadt 1941 seine Entlassung aus dem Konzentrationslager Welzheim veranlaßte. Eigentlich sollte der mit Schreib- und Berufsverbot belegte K. O. Schmidt fortan mit der geisttötenden Arbeit des Aufklebens von eingelösten Lebensmittelmarken beschäftigt werden. Statt dessen aber wurde ihm 1942 die Leitung des Ernährungsamtes mit der Lebensmittelkartenstelle übertragen. Wer mit K. O. Schmidt öfter zusammenkam, lernte auch seinen Humor kennen, zu dem sich bisweilen auch Selbstironie gesellte. Einmal schilderte er lachend, wie er, der vorher nie Soldat war, zum Volkssturm eingezogen wurde, und wie nach bangen Stunden der Ungewißheit der verantwortliche Offizier, es war der spätere Stadtrat Moll, in einem günstigen Augenblick die ganze Truppe nach Hause geschickt hat. Ein anderes Mal, als sich die Unterhaltung um das Thema Alkohol drehte, steuerte K. O. Schmidt Erinnerungen aus seiner Jünglingszeit bei. Anfang der zwanziger Jahre hätte er an einem Demonstrationsumzug gegen Alkoholismus teilgenommen und sich plötzlich mit fremden Augen hinter der Blau-Kreuz-Fahne her marschieren gesehen. Über dieses Bild hätte (er) so lachen müssen, daß er danach dieses Engagement nicht mehr zu teilen vermochte. Später war er einem Glas Sekt nicht mehr ganz abgeneigt, lebte aber im übrigen als Vegetarier und überzeugter Tierschützer gemäß seiner Weltanschauung. Zu wenigen Genüssen, die er sich privat gönnte, gehörte im Sommerurlaub jedes Jahr ein kleiner Alpenrundflug von Zürich aus.
K. O. Schmidts Tageslauf war streng eingeteilt. Jeden Morgen stand er um 4 Uhr auf, um vor Dienstantritt noch einige Stunden an seinen Büchern und den beiden Zeitschriften, die er redigierte, zu arbeiten. Nach dem Dienst ging er spazieren oder las noch etwas. Fernsehen existierte für ihn nicht. In diesem festen Tagesprogramm lag offensichtlich auch das Geheimnis seiner unvorstellbaren Schaffenskraft. Daneben fand er immer noch Zeit, Menschen in Not oder Schwierigkeiten mit Rat oder Geld zu helfen.
Ohne diesen originellen Menschenfreund, der den größten Teil seines Lebens in Reutlingen verbracht hat, wäre die Stadt in den Jahrzehnten nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg um vieles ärmer gewesen.
Vom ehemaligen Leiter der Stadtbibliothek [1968-1985] 1992 aufgeschrieben.
ISBN 978-3-87667-263-2
282 S., kartoniert